Antidementiva

Überarbeitungen bestehender Kapitel oder völlig neue Kapitel für mein Buch Psychopharmakotherapie griffbereit stelle ich immer gerne hier zur Diskussion. Diese Texte unterliegen dann dem Copyright und können nicht ohne Genehmigung des Verlages weiterverwendet werden. Ich bitte euch, sie gründlich zu lesen und hier in die Kommentare zu schreiben, was ihr davon haltet. Sehr viele Verbesserungsvorschläge haben sich so in den letzten Auflagen ihren Weg ins Buch gebahnt und ich meine, dass das Buch wirklich erst so gut geworden ist idurch die crowd-power hier!

Dieses Kapitel habe ich im ersten Schritt mit Hilfe von Chat-GPT auf Aktualität geprüft; wie das aussieht, habe ich in diesem Video dokumentiert.

Und hier habe ich den Inhalt des Kapitels als YouTube Video veröffentlicht:

Und nun: Was denkst Du über diesen Entwurf:

12.3 Antidementiva

12.3.1 Einleitung

Demenzen sind häufig und für Patient:innen und Angehörige eine erhebliche Belastung. Der Wunsch nach einer ursächlichen Behandlung, zumindest einer Linderung der Symptomatik oder wenigstens einer Verzögerung des Krankheitsfortschrittes ist mehr als verständlich. Bedauerlicherweise bleiben die ersten beiden Wünsche bislang unerfüllt: Es gibt aktuell weder eine ursächliche Behandlung noch eine wirksame symptomatische Therapie. Zwar werden Neuroleptika gegen Verhaltensauffälligkeiten eingesetzt, auch kann man begleitende Erkrankungen wie Depressionen mitbehandeln, die eigentliche Kernsymptomatik der Demenzen läßt sich aber nicht positiv beeinflussen.

Und was bewirken dann die gängigen „Antidementiva“? Anders als der Name vermuten läßt, wirken sie nicht der Demenz ursächlich entgegen.

Die kognitiven Effekte sind im Mittel gering; klinisch relevanter könnte sein, dass eine kontinuierliche Behandlung in manchen Studien die Heimaufnahme um einige Monate verzögert.

Eine gute Meta-Analyse zur Wirksamkeit der vier klassischen Antidementiva findet sich hier [2]

Die Verordnungshäufigkeit der Antidementiva nahm in der Zeiit von 2010–2021 in Deutschland insgesamt ab. Eine Auswertung von 357 Hausarzt- und 71 Facharztpraxen zeigt: „Die Antidementiva-Verordnungsrate nahm in Hausarztpraxen ab (von 0,14 % auf 0,10 %),“ während sie in Facharztpraxen leicht „zunahm (2,1 % auf 2,4 %).“ [1]

Die Prophylaxe der Demenz ist in der letzten Zeit etwas in den Vordergrund gerückt. Da viele Demenzen entweder rein vaskulär oder zumindest geschmischt mit einer vaskulären Komponente sind, ist alles, was gefäßprotektiv wirksam ist, auch ein Baustein in der Prävention von Demenzen. Und darüber hinaus hat sich gezeigt, dass körperliche und geistige Aktivität ebenfalls protektiv wirken.

Im Jahr 2025 neu auf den Markt gekommen sind die Antikörper Lecanemab und Donanemab, die sich gegen die alzheimertypischen Plaques wenden. Auch von diesen Medikamenten erhofft man sich promär eine Verzögerung des Fortschreitens der Krankheit. Eine Verbesserung der bereits entstandenen Symptomatik hat sich auch in den Studien nicht gezeigt. Die Anwendung ist jedoch auf eine kleine Patientengruppe im frühen Alzheimer-Stadium beschränkt und aufwändig, hier wird erst die Erfahrung der kommenden Jahre zeigen, welchen Stellenwert diese Substanzen in der Versorgung von Demenzpatienten einnehmen werden.

Antidementiva

Azetylcholinesterasehemmer

  • Galantamin (z. B. Reminyl),
  • Donepezil (z. B. Aricept) und
  • Rivastigmin (z. B. Exelon)

NMDA‑Antagonist

  • Memantin (z. B. Axura).

Antikörper gegen Alzheimer-Plaques zur iv. Anwedung

  • Lecanemab
  • Donanemab

12.3.2 Therapie

Die Indikationen und Wirkweise der Antidementiva erscheinen einem zunächst einmal kompliziert und unklar: Wann soll ich denn nun was geben und wirkt das überhaupt?

Klarheit bietet die S3‑Leitlinie „Demenzen“ (DGPPN/DGN) vom 28.11.2023 (Living‑Guideline)(1).

Die Kurzform lautet in etwa so: Die pharmakologische Behandlung richtet sich nach Demenzform und Schweregrad. Zur Rekapitulation, es gibt die

  • Alzheimer‑Demenz (≈ 60 %)
  • Gemischte Demenz (Alzheimer‑ und vaskuläre Merkmale)
  • Vaskuläre Demenz
  • Frontotemporale Demenz (Morbus Pick)
  • Parkinson‑Demenz
  • Lewy‑Körperchen‑Demenz
  • Andere Demenzen

Morbus Alzheimer

Der Morbus Alzheimer ist mit 60 % die häufigste Demenzform. Ab dem 60. Lebensjahr steigt die Prävalenz über alle Altersstufen kontinuierlich an, von den 85-Jährigen sind bereits 20 % betroffen. Im Krankheitsverlauf atrophiert die Hirnmasse zunehmend durch das Absterben von Neuronen. Dies zeigt sich betont am medialen Temporallappen und am Hippocampus. Es kommt zu einer Erweiterung der Seitenventrikel. Im histologischen Präparat, das aber naturgemäß erst nach dem Tod zur Diagnostik herangezogen werden kann, zeigen sich die für den Morbus Alzheimer typischen und pathognomonischen senilen Plaques und fibrillären Ablagerungen. Die Proteinablagerungen der Plaques bestehen im Wesentlichen aus β-Amyloid. Die intrazellulär gelegenen Neurofibrillenbündel bestehen aus dem Tau-Protein. Dieses aggregiert zu Fibrillen, wenn es besonders stark phosphoryliert ist.

Donepezil, Galantamin und Rivastigmin sind Azetylcholinesterasehemmer. Daher verwundert es nicht, dass diese beim Morbus Alzheimer wirken, denn durch die Hemmung des Abbaus von Azetylcholin steigt dessen zerebrale Verfügbarkeit. Auch der NMDA-Antagonist Memantin ist beim Morbus Alzheimer wirksam.

Differenzialindikation

Es gibt im Rahmen der Behandlung der leichten bis mittelschweren AlzheimerDemenz keine ausreichende Evidenz für die Überlegenheit einer antidementiven Substanz gegenüber einer anderen. Daher gibt es keine Kriterien für einen differenziellen Einsatz dieser Substanzen. Die Auswahl richtet sich nach Applikationsart, individueller Verträglichkeit und Kosten.

Alle 4 verfügbaren Antidementiva können die Symptomatik lindern und etwas verzögern. Dies kann in vielen Situationen bereits ein großer Gewinn sein.

Gemischte Demenz

Bei gemischter Demenz (Alzheimer‑ und vaskuläre Anteile) können AChE‑Hemmer und Memantin wirksam sein.

Vaskuläre Demenz

Bei der Therapie der reinen vaskulären Demenz stehen gefäßprotektive Ansätze im Vordergrund.

Die Leitlinie empfiehlt daher nicht den Einsatz von Antidementiva, die bei der rein vaskulären Demenz auch nicht indiziert sind. Oft kann man aber gerade bei der vaskulären Demenz die Grenze zu einer gemischten Demenz nicht ganz sicher ziehen. Daher unternehmen viele Ärzte einen Therapieversuch mit einem Antidementivum, auch wenn der O ff -Label-Gebrauch (s. Kap. 18 Glossar) verschiedene Probleme mit sich bringt.

Frontotemporale Demenz (Morbus Pick)

Auch für Patienten mit einer frontotemporalen Demenz (Morbus Pick) spricht die Leitlinie keine Empfehlung für ein Antidementivum aus.

Bei diesem Krankheitsbild spielen verhaltensmodulierende Interventionen eine besondere Rolle, daher werden im Rahmen einer frontotemporalen Demenz häufig Sedativa und Neuroleptika eingesetzt.

Parkinson‑Demenz

Die Parkinson-Demenz ist ebenso wie die Demenz vom Alzheimer-Typ durch einen funktionellen Mangel an Azetylcholin gekennzeichnet. Für die Behandlung der Parkinson-Demenz im leichten bis mittleren Stadium ist Rivastigmin zugelassen und zu empfehlen.

Lewy‑Körperchen‑Demenz

Internationale Leitlinien (z. B. NICE) empfehlen Donepezil oder Rivastigmin bei leichter–moderater DLB, Galantamin nur bei Unverträglichkeit; Memantin kann erwogen werden, wenn AChE‑Hemmer nicht möglich sind. In Deutschland bleibt der Einsatz von AChE‑Hemmern bei DLB Off‑Label, kann aber individuell erwogen werden. Wichtig: keine typischen Neuroleptika; atypische nur mit großer Vorsicht (EPS‑Risiko).

12.3.3 Wirkstoffe

Galantamin

  • > Klasse: Azetylcholinesterasehemmer
  • > Handelsname: Reminyl
  • > Zulassung: leichte bis mittelgradige Alzheimer‑Demenz

Galantamin ist ein Pflanzenalkaloid, das aus dem Kleinen Schneeglöckchen, dem Kaukasischen Schneeglöckchen sowie einigen Narzissenarten, wie der Gelben Narzisse (Osterglocke), gewonnen werden kann.

Erstmals isoliert wurde es 1953 aus den Zwiebeln des Kaukasischen Schneeglöckchens. Heutzutage wird der Wirkstoff synthetisch hergestellt.

Nebenwirkungen

Azetylcholinesterasehemmer wie Galantamin werden bei langsamer Aufdosierung in der Regel recht gut vertragen. Die häufigsten Nebenwirkungen sind Erbrechen, Übelkeit, Schwindel, Appetitlosigkeit, Diarrhoe, Kopfschmerzen und Bradykardien. Galantamin kann in Einzelfällen eine schwere Hautreaktion, das Stevens-Johnson-Syndrom, hervorrufen. Auch eine Verlängerung der QTc-Zeit, die in eine lebensbedrohliche Herzrhythmusstörung übergehen kann, wird beschrieben.

Mein persönliches Fazit

Bei der Alzheimer-Demenz verwende ich Galantamin gerne, weil es leicht zu dosieren ist. Außerdem habe ich die Erfahrung gemacht, dass es gut verträglich ist.

Donepezil

  • > Klasse: Azetylcholinesterasehemmer
  • > Handelsname: Aricept
  • > Zulassung: leichte bis mittelgradige Alzheimer‑Demenz

Dosierung:

  • > 5 mg/Tag im ersten Monat
  • > danach 10 mg/Tag möglich.

Nebenwirkungen

Die häufigsten Nebenwirkungen unter Donepezil sind Durchfall, Übelkeit, Schwindel, Obstipation oder Kopfschmerzen.

Mein persönliches Fazit

Donepezil verwende ich insbesondere bei schweren Krankheitsverläufen.

Rivastigmin

  • > Klasse: Azetylcholinesterasehemmer
  • > Handelsname: Exelon
  • > Darreichung: Kapsel, Lösung, Pflaster
  • > Zulassung: u. a. Alzheimer‑ und Parkinson‑Demenz

Dosierung

Kapseln

  • in den ersten 2 Wochen: 1,5–0–1,5 mg
  • 3. und 4. Woche (bei guter Verträglichkeit): 3–0–3 mg
  • alle 2 Wochen: Steigerung jeweils um 2 × 1,5 mg möglich
  • wirksame Zieldosis: zwischen 3–0–3 mg und 6–0–6 mg
  • Wenn die Behandlung länger als 3 Tage unterbrochen wurde, ist der Wiederbeginn mit 1,5–0–1,5 mg und anschließender Dosistitration notwendig.

Pflaster (transdermal)

  • Start 4,6 mg/24 h
  • nach mind. 4 Wochen 9,5 mg/24 h
  • Eskalation auf 13,3 mg/24 h kann nach ~6 Monaten bei klinischer Verschlechterung erwogen werden.

Nebenwirkungen

Unter Rivastigmin-Therapie sind auch gastrointestinale Nebenwirkungen wie Übelkeit oder Diarrhoe häufig. Bei Verwendung von Pflastern kommt es seltener zu diesen Nebenwirkungen als bei Verabreichung von Kapseln.

Persönliches Fazit

Die Applikationsart als Pflaster stellt ein Alleinstellungsmerkmal gegenüber den anderen Antidementiva dar. Die Pflaster können gerade bei Patienten mit Schluckbeschwerden sehr praktisch sein. Darüber hinaus ist es aufgrund seiner Zulassung das Medikament der 1. Wahl zur Therapie der Parkinson-Demenz.

Memantin

  • > Klasse: NMDA‑Antagonist
  • > Handelsname: Axura
  • > Zulassung: mittelgradige bis schwere Alzheimer‑Demenz

Eine Zulassung für die leichte Demenz besteht für Memantin nicht. Insgesamt ist die Wirksamkeit von Memantin bei der moderaten bis schweren Alzheimer-Demenz gering, aber nachweisbar. Aufgrund der fehlenden zugelassenen pharmakologischen Alternativen und der besonderen Schwere der Betreuungssituation von Patienten mit moderater bis schwerer Alzheimer-Demenz kommt der Behandlung mit Memantin bei diesen Patienten jedoch eine Bedeutung zu.

Dosierung

Die Dosierung ist einfach und durch die speziellen Starterpakete unmissverständlich:

  • 1. Woche: 5–0–0 mg
  • 2. Woche: 10–0–0 mg
  • 3. Woche: 15–0–0 mg
  • ab der 4. Woche: 20–0–0 mg

Bei schlechter Verträglichkeit kann die Aufdosierung langsamer erfolgen. Die Zieldosis beträgt 20 mg/Tag.

Nebenwirkungen

Memantin kann Durchfall, Übelkeit, Schwindel, Obstipation und Kopfschmerzen verursachen.

Mein persönliches Fazit

Memantin ist nicht für leichte Demenzformen, aber für mittelgradige bis schwere Demenzen zugelassen. Da diese gerade in der Klinik besonders häufig vorkommen, hat es für mich einen besonderen Stellenwert.

Lecanemab

  • > Klasse: monoklonaler Antikörper gegen aggregiertes Amyloid‑β
  • > Handelsname: Leqembi
  • > EU‑Zulassung: 15.04.2025
  • > Indikation: frühe Alzheimer‑Erkrankung (MCI/leichte Demenz) bei ApoE ε4 Nicht‑Trägern oder Heterozygoten mit bestätigter Amyloid‑Pathologie
  • Dosierung: 10 mg/kg i.v. Infusion alle 2 Wochen (≈ 1 h)
  • Monitoring: verpflichtendes MRI‑Schema (Baseline und vor der 3., 5., 7. und 14. Infusion) zur ARIA‑Erkennung; kontrollierter Zugang/Registrierung, Aufklärung inkl. Patientenausweis
  • Kontraindikationen/relative Ausschlüsse: u. a. unkontrollierte Blutungsstörungen; relevante MRI‑Befunde (z. B. > 4 Mikroblutungen, Superfizial‑Siderose); keine Einleitung unter laufender Antikoagulation
  • Sicherheitsprofil: ARIA‑E/-H als zentrale Risiken; Dosisunterbrechung/Abbruch nach Schweregrad/Symptomatik

Lecanemab ist ein neues Therapeutikum, zu dem derzeit noch klinische Erfahrungen gesammelt werden. Aufgrund der aufwendigen Diagnostik und der engen Patientenselektion sollte die Behandlung ausschließlich in spezialisierten Zentren erfolgen.

Die Effektstärke auf dementielle Symptome gemessem mit dem Item „Clinical Dementia Rating – Sum of Boxes“ beträgt laut einer Meta-Analyse ca. 0,25. [3]

Literatur

Copyright

Dieser Beitrag ist ein Auszug beziehungsweise eine auszugsweise Vorabveröffentlichung des Werks „Psychopharmakotherapie griffbereit“ von Dr. Jan Dreher, © Georg Thieme Verlag KG. Die ausschließlichen Nutzungsrechte liegen beim Verlag. Bitte wenden Sie sich an permissions@thieme.de, sofern Sie den Beitrag weiterverwenden möchten.

Überarbeitung des Kapitels zu Lamotrigin im Buch…

Es ist gute Sitte, neue und von Grund auf überarbeitete Kapitel in meinem Buch Psychopharmakotherapie griffbereit hier zur Diskussion zu stellen. Der Text dieser Überarbeitung des Kapitels Lamotrigin steht daher unter Copyright. Ich bitte euch, ihn zu lesen und in den Kommentaren Verbesserungsvorschläge zu formulieren.

Es gibt ja nun auch ein Video zu Lamotrigin, das findest Du hier:

5.3.4 Lamotrigin

  • ist ein in der Regel gut verträgliches Antiepileptikum.
  • wird in der Phasenprophylaxe Bipolarer Störungen eingesetzt, wenn vornehmlich depressive Episoden bestanden haben.
  • muss langsam aufdosiert werden, da es sonst zu problematischen Hautveränderungen bis hin zum Stevens-Johnson-Syndrom kommen kann.

Lamotrigin ist seit 1993 als Antikonvulsivum zugelassen. Seit 2003 wird es auch zur Phasenprophylaxe bei bipolaren Störungen eingesetzt.

Pharmakologie

Lamotrigin blockiert Natrium- und spannungsabhängige Kalziumkanäle der Nervenzellen und verhindert die Freisetzung der erregenden Neurotransmitter Aspartat und Glutamat. So können sich Reize nur noch vermindert von einer Nervenzelle zu einer anderen ausbreiten.

Klinischer Einsatz

In der Epileptologie ist Lamotrigin für die Indikationen fokale und sekundär generalisierte epileptische Anfälle ein gut bewährtes Medikament, es führt hier bei 40–60 % der Patienten zur Anfallsfreiheit. Ebenfalls erfolgreich wird es in der Behandlung von Polyneuropathien eingesetzt.

In der Psychiatrie wird es Phasenprophylaktikum eingesetzt. Dabei wirkt es zur Verhinderung von manischen Phasen schlechter als Lithium. Aber in der Verhinderung von depressiven Phasen ist seine Wirksamkeit nach der Studienlage etwas gleich gut wie die des Lithiums, bei oft besserer Verträglichkeit.

Insbesondere, wenn in der Vergangenheit depressive Phasen ganz im Vordergrund stehen, kann Lamotrigin also eine gute Wahl sein.

Dosierung

  • 1. und 2. Woche: 25 mg/Tag
  • 3. und 4. Woche: 50 mg/Tag
  • 5. Woche: 100 mg/Tag
  • Ab Woche 6: 200 mg/Tag
  • Zieldosis: 200 mg/Tag
  • Einige Patient:innen brauchen Dosierungen bis zu: 400 mg/Tag. Bitte Fachinformationen beachten.

Wenn das Medikament 5 Tage oder länger pausiert worden ist, muss eine neue Eindosierung entsprechend dieses Schemas erfolgen. Man kann nach einer mehrtägigen Pause nicht einfach wieder die alte Dosis geben, da sonst das Risiko von Hautveränderungen erhöht wäre.

Nebenwirkungen

Die Dosierung von Lamotrigin darf nicht schneller als oben angegeben gesteigert werden, da sonst häufig Hautveränderungen auftreten. Teilweise handelt es sich dabei nur um ein kleinfleckiges Exanthem, das es erlaubt, die Dosis zu halbieren und einige Zeit abzuwarten. Wenn es vollständig verschwindet, ist es möglich, unter sorgfältiger Beobachtung die Dosis wieder zu steigern.

Tritt jedoch ein echtes Exanthem auf, muss Lamotrigin sofort vollständig abgesetzt werden, da sonst die Gefahr besteht, dass ein Stevens-Johnson-Syndrom ausgelöst wird, das lebensbedrohlich sein kann. Dabei ist das Risiko für das Auftreten eines Stevens Johnson-Syndroms erhöht bei zu schneller Titration, in Kombination mit Valproat, in den ersten 8 Wochen der Behandlung und bei bestimmten asiatischen Populationen, die ein erhöhtes genetisches Risiko tragen können.1

Außer diesen Hautveränderungen gibt es noch weitere unerwünschte Wirkungen, die vorkommen können. Am häufigsten berichtet werden

  • Kopfschmerz
  • Schwindel
  • Übelkeit
  • Schlafstörungen
  • Sedierung
  • Kognitive Störungen wie Wortfindungsstörungen
  • Auto-Immun-Prozesse

Insgesamt gilt Lamotrigin bei langsamer Aufdosierung als gut verträglich.

Interaktionen

Die Kombination von Lamotrigin mit Valproat kann klinisch sinnvoll sein, sie ist aber schwierig. Zum einen steigt in dieser Kombination das Risiko für das Auftreten eines Stevens-Johnson-Syndroms. Zum anderen kann die gleichzeitige Gabe von Valproat den Lamotrigin-Spiegel erhöhen. Es sind daher Blutspiegelkontrollen und ein besonders langsames Aufdosieren erforderlich.

Zusammen mit östrogenhaltigen Kontrazeptiva kann der Lamotrigin-Spiegel um bis zu 50 % reduziert sein, auch hier ist die Überwachung der Blutspiegel sinnvoll.

Wirksamkeitsvergleich mit Lithium

Es gibt mehrere Meta-Analysen zur Frage der Wirkstärke von Lamotrigin im direkten Vergleich zu Lithium (Oya 2019: Lithium & Lamotrigin Maintenance; Haenen et al. 2024 u.a.) Die Ergebnisse sind im Wesentlichen:

  • Lamotrigin ist in der Prophylaxe depressiver Episoden ähnlich gut wirksam wie Lithium.
  • Es ist nicht gut wirksam in der Prophylaxe manischer Episoden, hier ist Lithium wirkstärker.
  • Lamotrigin kann nicht eingesetzt werden gegen akute Manien.
  • Die suizidprophylaktische Wirkung ist nur für Lithium nachgewiesen.
  • Die Verträglichkeit von Lamotrigin kann besser sein als die von Lithium.

Mein persönliches Fazit

Lithium ist besser wirksam, wenn sich der bisherige Verlauf einer bipolaren Störung auch durch relevante manische Episoden gezeigt hat. Wenn es sich hingegen um eine Bipolar II Störung mit hauptsächlich depressiven Episoden handelt, kann Lamotrigin gleich wirksam und besser verträglich sein.

Für mich persönlich ist Lithium in der Behandlung bipolarer Störung meist das Mittel der ersten Wahl. Wird Lithium nicht vertragen, ist Lamotrigin bei Frauen im gebährfähigen Alter und bei Männern mit Kinderwunsch für mich das Mittel der zweiten Wahl (Valproat kann auch dann teratogen sein, wenn die Väter es zum Zeitpunkt der Zeugung oder in den Wochen davor eingenommen haben). Man kann Lamotrigin auch mit einem anderen Phasenprophylaktikum kombinieren, wobei Valproat schwierig ist.

Dabei muss man sich immer an die langsame Aufdosierung halten, auch nach einer Medikationspause von wenigen Tagen und sorgsam auf neu auftretende Hautveränderungen achten.

Literatur

  • [57] McKnight RF, Adida M, Budge K et al. Lithium toxicity profile: a systematic review and meta-analysis. Lancet 2012; 379: 721–728. doi:10.1016/S0140-6736(11)61516-X
  • [58] BfARM. Rote-Hand-Brief. Valproat: Neue Anwendungseinschränkungen; Einführung des Schwangerschaftsverhütungsprogramms (09.11.2018). Im Internet: http://www.bfarm.de/SharedDocs/Risi-
  • koinformationen/Pharmakovigilanz/DE/RHB/2018/rhb-valproat.pdf?__blob=publicationFile&v=3;
  • [59] BfARM. Rote-Hand-Brief. Arzneimittel, die Valproat und -verwandte Substanzen enthalten: Risiko für Anomalien des Neugeborenen (12.12.2014). Im Internet: https://www.bfarm.de/SharedDocs/ Downloads/DE/Arzneimittel/Pharmakovigilanz/Risikoinformationen/RI_rhb/2014/valproat-rhb.
  • [60] DGBS e. V., DGPPN e. V., Hrsg. S3-Leitlinie zur Diagnostik und Therapie Bipolarer Störungen. Langversion 2.1 (2019). Im Internet: https://www.awmf.org/uploads/tx_szleitlinien/038-019l_S3_Bipolare-Stoerungen-Diagnostik-Therapie_2020-05.pdf; Stand: 08.01.2021
  • [61] Deutsche Gesellschaft für Bipolare Störungen e. V. (DGBS). Homepage (o.A.). Im Internet: http://www.dgbs.de; Stand: 09.02.2020

Copyright

Dieser Beitrag ist ein Auszug beziehungsweise eine auszugsweise Vorabveröffentlichung des Werks „Psychopharmakotherapie griffbereit“ von Dr. Jan Dreher, © Georg Thieme Verlag KG. Die ausschließlichen Nutzungsrechte liegen beim Verlag. Bitte wenden Sie sich an permissions@thieme.de, sofern Sie den Beitrag weiterverwenden möchten.

  1. Bloom R, Amber KT. Identifying the incidence of rash, Stevens-Johnson syndrome and toxic epidermal necrolysis in patients taking lamotrigine: a systematic review of 122 randomized controlled trials. An Bras Dermatol 2017;92(1):139-141. http://dx.doi.org/10.1590/abd1806-4841.20175070 ↩︎

Neue Kontrollintervalle für Clozapin

Da Agranulozytosen unter Clozapin fast nur im ersten Jahr auftreten und innerhalb des ersten Jahres weit überwiegend in den ersten 18 Wochen hat die EMA nun mit zunehmender Behandlungsdauer längere Kontrollintervalle empfohlen. Besser als das Differentialblutbild sei die Absolute Neutrophilenzahl geeignet. Das neue verpflichtende Schema hierzu ist meinem Verständnis nach dieses hier. Dieses Intervall gilt nur für Patienten ohne Neutropenie. Bei Auftreten von Symptomen einer Agranulozytose wie Fieber und Entzündungen des Rachens ist eine sofortige Laborkontrolle erforderlich. Die Werte in Klammern können je nach Situation in längeren Intervallen bestimmt werden.

Schreibt mir mal in die Kommentare, ob ihr die „Zusätzlichen Kontrollen“ anders handhabt und wie ihr diese Übersicht findet. Die Grafik darf gerne geteilt und weiterverwendet werden.

Meine Tools

Anläßlich der Amazon Prime Days habe ich hier noch mal meine Tools verlinkt, die findest Du sonst immer auf meiner persönlichen Seite.

Hier verlinke ich Dir einige Tools, die ich selbst verwende und die ich wirklich gut finde. Die Links sind Affiliate-Links, ich verdiene also eine kleine Provision, wenn Du durch einen Click auf den Link das Produkt kaufst. Egal: Ich werde immer mal wieder gefragt, welche Technik ich verwende und hier sind meine wichtigsten Tools:

Nix kaufen, was Du nicht brauchst, aber wenn Du es eh kaufen wolltest, dann guck doch mal, ob es in diesen Tagen günstiger ist. Der Elgato Prompter, das Sony Objektiv und der Rode Caster Duo sind gerade im Angebot!

Crowd-Power ADHS-Therapeutika!

Es ist auf diesem Blog gute alte Sitte, dass ich die Konzepte zu neuen Kapiteln für mein Buch Psychopharmakotherapie griffbereit hier veröffentliche und euch um euer konstruktives Feedback bitte. Lest das Kapitel, schreibt in die Kommentare, was verständlich erklärt ist, was schlecht erklärt ist, was vielleicht falsch ist und was fehlt!

Dieses Vorgehen hilft ungemein dabei, gute und richtige Texte zu erstellen, die es dann später in die nächste Auflage des Buches schaffen (die ist aber noch lange nicht in Sicht, die aktuelle ist ja noch recht neu!). Dieser Text steht daher ausnahmsweise unter Copyright, ihr dürft ihn also nicht weiterverwenden.

Und noch was: Ein YouTube Video zu diesem Inhalt gibt es nun auch, das findet ihr hier:

Also: Das ist mein Vorschlag; und nun bitte ich euch um euer Feedback!

8 ADHS-Therapeutika

Die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) ist eine der häufigsten psychischen Erkrankungen im Kindes- und Jugendalter. Zunehmend wird sie auch im Erwachsenenalter diagnostiziert. Dies kann entweder darauf zurückzuführen sein, dass ein Patient bereits im Kindes- oder Jugendalter mit ADHS diagnostiziert und behandelt wurde, und diese Behandlung nun im Erwachsenenalter fortgeführt wird, oder darauf, dass die Diagnose erst im Erwachsenenalter gestellt wird. Auch dann muss die Symptomatik bereits in der Kindheit bestanden haben, um die Diagnose zu rechtfertigen.

In Deutschland werden vier Substanzen häufig eingesetzt: Zur Gruppe der Stimulanzien gehören Methylphenidat und Lisdexamfetamin. Diese beiden haben insbesondere bei missbräuchlicher Verwendung ein Abhängigkeitspotenzial und unterliegen daher der Betäubungsmittel-Verschreibungsverordnung. Dies soll einen sorglosen Gebrauch verhindern und die Verbreitung auf dem Schwarzmarkt einschränken. Viele Patienten und Eltern befürchten nun, dass das junge Gehirn des Patienten durch süchtig machende Substanzen geschädigt werden könnte. Tatsächlich verhindert die langsame Wirkungsentfaltung dieser Medikamente ein „high“. Auch eine Toleranzentwicklung ist selten. Das Missbrauchsrisiko bei Stimulanzien besteht vor allem bei nasaler Applikation und höheren Dosierungen, die im Rahmen der ADHS-Behandlung nicht vorgesehen sind. Bei bestimmungsgemäßem Gebrauch ist das Abhängigkeitspotential von Methylphenidat und Lisdexamfetamin niedrig.

Nicht aus der Gruppe der Stimulanzien sind das Antidepressivum Atomoxetinund Guanfacin. Die Wirkung auf die ADHS-Symptomatik ist bei diesen beiden Substanzen in den meisten Fällen schwächer als bei den Stimulanzien, dafür gehen sie nicht mit einem Mißbrauchspotential einher, unterliegen nicht der Betäubungsmittel-Verschreibungs-Verordnung und haben in bestimmten Indikationen ein besseres Profil als die Stimulanzien.

Zur Diagnostik und zum Gesamtbehandlungskonzept bei ADHS gibt es viel zu sagen. Ich verweise hier auf die sehr gute S3-Leitlinie „Aufmerksamkeitsdefizit- / Hyperaktivitätsstörung (ADHS) im Kindes-, Jugend und Erwachsenenalter“ 71. In diesem Buch konzentrieren wir uns auf die Substanzen und deren direkte Charakteristika.

8.1 Methylphenidat

  • gehört zu den amphetaminähnlichen Substanzen und hat wie diese eine anregende Wirkung. Es unterdrückt Hunger und Müdigkeit.
  • gilt als die Therapie der ersten Wahl der ADHS.
  • führt oft zu einer eindrucksvollen Verbesserung der Aufmerksamkeit, Konzentrationsfähigkeit und zu einer Verhaltensnormalisierung des betroffenen Kindes.
  • kann auch bei Erwachsenen eingesetzt werden, die als Kind eine ADHS hatten und immer noch unter ausgeprägten Symptomen leiden.

Methylphenidat wurde erstmals 1944 von Leandro Panizzon, einem Angestellten der schweizerischen Firma Ciba (heute Novartis), synthetisiert. Zur damaligen Zeit war es üblich, Selbstversuche mit neu entwickelten Substanzen durchzuführen – so probierten Leandro Panizzon und seine Ehefrau Marguerite („Rita“) Methylphenidat aus. Besonders beeindruckt war Marguerite davon, dass sich ihre Leistung im Tennisspiel nach Einnahme von Methylphenidat steigerte. Von ihrem Spitznamen Rita leitet sich der bekannte Präparatename Ritalin® für Methylphenidat ab. Ritalin wurde 1954 von Ciba auf dem deutschsprachigen Markt eingeführt. Das Medikament wurde in Deutschland zunächst rezeptfrei abgegeben, erst 1971 wurde es dem Betäubungsmittelgesetz unterstellt.

Methylphenidat ist ein umstrittenes Psychopharmakon. Das verwundert nicht, denn es gehört pharmakologisch zur Gruppe der amphetaminähnlichen Substanzen, und es wird Kindern und Jugendlichen verordnet. Dieser Gedanke kann einen zunächst einmal berechtigt irritieren. Ausgerechnet das noch in Entwicklung befindliche kindliche Gehirn mit einer Droge zu behandeln, nur weil das Kind „etwas zappelig“ ist, das kann doch nicht richtig sein; das muss doch Langzeitschäden verursachen.

Auf der anderen Seite beschreiben Betroffene und deren Eltern in vielen Fällen, dass das ADHS-kranke Kind vor der Medikation, trotz aller Psychotherapie, Beratung der Eltern und des Kindergartens/der Schule, Selbstmanagementkursen und alternativer Ernährung keine 3 Minuten bei einem Thema bleiben konnte, ständig durch die Gegend lief und nicht ruhig auf einem Stuhl sitzen konnte. In der Schule hätte es keinen Anschluss an Gleichaltrige gefunden. Mit der Medikation sei das Kind dann plötzlich in der Lage gewesen, sich über eine längere Zeit zu konzentrieren, habe ganz normal am Unterricht teilnehmen können und sei im Verhalten wieder so geworden, dass es nicht wie unter Strom stehend, sondern eben wieder gesund gewirkt habe.

Anders als Amphetamin setzt Methylphenidat seinen Wirkstoff langsam frei. Dadurch entsteht kein „high“ in der Wirkung und dies ist ein wesentlicher Punkt, warum die Abhängigkeitsgefahr ganz anders einzuschätzen ist als bei auf der Straße zum Rauschkonsum erhältlichen Amphetaminen. Es wird nun schon seit langer Zeit verordnet und es ist bislang nicht beobachtet worden, dass Kinder, die in ihrer Grundschulzeit Methylphenidat verordnet bekamen, später häufiger eine Amphetaminabhängigkeit entwickelt hätten. Es ist auch nicht bekannt, dass mit Methylphenidat behandelte Kinder später in ihrem Leben mit einer erhöhten Wahrscheinlichkeit eine andere Abhängigkeit entwickelten. Vielmehr trifft sogar das Gegenteil zu: Die Behandlung einer ADHS mit Psychostimulanzien führte im Vergleich zur fehlenden Behandlung zu einem geringeren Risiko, eine Suchterkrankung zu entwickeln (Asherson P (2017) Drug Treatment for ADHD reduce risk of substance use disorder. Am J Psychiatry 174(9): 827-828).

Umgekehrt ist es schon so, dass Amphetaminabhängige nicht selten zu einem oder mehreren Psychiatern gehen und über genau die Symptome einer ADHS-Erkrankung klagen, die in Wikipedia stehen, in der oft erfolgreichen Absicht, Methylphenidat rezeptiert zu bekommen.

Es gibt auch immer wieder ADHS-Patienten, die in einer Art „Selbstmedikation“ Amphetamine einnehmen. Die Diagnose einer ADHS bei bestehender Amphetaminabhängigkeit ist schwierig. Gerade von Suchttherapeuten wird Methylphenidat in der retardierten Form aber auch abhängigen ADHS-Patienten verordnet, mit dem Argument, so der Entwicklung oder Ausdehnung einer Amphetaminabhängigkeit vorzubeugen.

8.1.1 Pharmakologie

Methylphenidat gehört zu den Phenethylaminen und ist, wie auch das Amphetamin, ein indirektes Sympathomimetikum mit zentraler Wirkung. Die chemische Struktur ähnelt den Katecholaminen. Methylphenidat wirkt anregend und aufregend. Es unterdrückt Müdigkeit und Hunger und steigert kurzfristig die körperliche Leistungsfähigkeit. Normalerweise bei körperlicher Überlastung auftretende Warnsignale wie Schmerz und Erschöpfungsgefühl werden vermindert.

Methylphenidat ist ein Dopamin- und Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer. In geringem Maße sorgt es für die Freisetzung von Katecholaminen, die erhöhte Dopaminkonzentration wird aber in erster Linie durch Wiederaufnahmehemmung erreicht. Methylphenidat wirkt außerdem als Agonist an den Serotoninrezeptoren 5-HT1A und 5-HT2B.

Methylphenidat wird rasch und fast vollständig resorbiert. Die maximale Plasmakonzentration des unretardierten Wirkstoffs ist nach ca. 1–2 Stunden erreicht. Die Wirkdauer beträgt ca. 4 Stunden. Für die Aufdosierung und Dosisfindung fängt man häufig mit dem unretardierten Methylphenidat an.

Es gibt Methylphenidat auch retardiert, dann ist die Wirkstofffreisetzung auf bis zu 12 Stunden verzögert.

Und schließlich gibt es Präparate, die einen Teil des Wirkstoffs retardiert und einen anderen Teil unretardiert enthalten. So wird der Wirkstoff bei morgendlicher Einnahme in einem günstigen Profil über den Tag verteilt freigesetzt.

Für die Erwachsenenpsychiatrie sind nur Retardpräparate zugelassen. Das liegt zum einen daran, dass unretardiertes Methylphenidat ein höheres Missbrauchspotential hat und zum zweiten daran, dass die Wirkstofffreisetzung über den Tag bei den Retardtabletten besser ist.

8.1.2 Klinischer Einsatz

Methylphenidat ist im Rahmen einer therapeutischen Gesamtstrategie zur Behandlung von Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörungen bei Kindern ab einem Alter von 6 Jahren angezeigt, wenn sich andere therapeutische Maßnahmen allein als unzureichend erwiesen haben. Die Diagnose darf sich nicht allein auf das Vorhandensein von Symptomen stützen, sondern muss auf einer vollständigen Anamnese und Untersuchung des Patienten basieren. Eine therapeutische Gesamtstrategie beinhaltet sowohl psychologische, pädagogische, soziale als auch medikamentöse Maßnahmen. Einmal pro Jahr soll man einen kontrollierten Auslassversuch machen.

Dosierung

  • Immer schrittweise aufdosieren
  • bei Kindern mit 5-10 mg beginnen
  • Typische Dosis für Kinder und Jugendliche: 20–40 mg pro Tag (1 mg pro kg Körpergewicht)
  • Typische Dosis für Erwachsene: 40–60 mg pro Tag
  • Zugelassene Tageshöchstdosis Erwachsene: 80 mg

Wenn man sich für Methylphenidat entschieden hat, und die Wirkung zwar vorhanden ist, aber nicht gut über den Tag verteilt anhält, kann es hilfreich sein, die Dosis auf zwei Zeitpunkte aufzuteilen (morgens und mittags) oder auf ein anderes Präparat umzustellen, dass einen anderen Teil der Dosis als Retardformulierung enthält.

Es gibt nicht wenige Patienten, die das Medikament nur während der Woche nehmen (Schule/Arbeit), es aber am Wochenende oder im Urlaub weglassen oder reduzieren, da sie es in diesen Situationen weniger brauchen. Das funktioniert erfahrungsgemäß problemlos und mit dem ersten Tag der Woche und der normal eingenommenen Dosis stellt sich auch wieder die gewohnte Wirkung ein.

8.1.3 Nebenwirkungen

Zu den häufigsten Nebenwirkungen gehören Kopfschmerzen, Schlaflosigkeit und Nervosität. Aus dem psychiatrischen Bereich sind die Nebenwirkungen Appetithemmung, Affektlabilität, Aggression, Unruhe, Angst und Reizbarkeit häufig. Gelegentlich kommt es zu psychotischen Störungen sowie akustischen, optischen und taktilen Halluzinationen. Methylphenidat kann eine Reihe weiterer relevanter Nebenwirkungen an verschiedenen Organsystemen verursachen, über die die Fachinformation informiert.

Bei Kindern und Jugendlichen kann es gelegentlich zu einer Wachstumsverzögerung kommen.

Patienten mit Krampfanfällen in der Vorgeschichte soll man keine Stimulanzien verordnen, da diese die Krampfschwelle erheblich senken können.

8.2 Lisdexamfetamin

Lisdexamfetamin ist in Deutschland seit 2013 für die Behandlung von ADHS bei Kindern ab sechs Jahren zugelassen. 2019 wurde die Zulassung auf erwachsene Patienten erweitert.

Lisdexamfetamin gilt als sehr gut wirksam, aber nebenwirkungsreicher als Methylphenidat, daher wird es häufig als Medikament der zweiten Wahl eingesetzt, wenn Methylphenidat nicht ausreichend gewirkt hat. Zugelassen ist es aber auch als Mittel der ersten Wahl, unter bestimmten Bedingungen.

8.2.1 Pharmakologie

Lisdexamfetamin ist ein Prodrug, das im Körper zu seinem aktiven Bestandteil Dextroamphetamin metabolisiert wird. Dextroamphetamin erhöht die Freisetzung von Neurotransmittern wie Dopamin und Noradrenalin. Da Lisdexamfetamin als Prodrug langsamer aktiviert wird, ist das Risiko von Missbrauch im Vergleich zu direkteren Formen von Amphetaminen niedriger.

8.2.2 Klinischer Einsatz

Lisdexamfetamin ist zur Behandlung von Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) bei Kindern ab sechs Jahren, Jugendlichen und Erwachsenen zugelassen.

Darüber gibt es Hinweise, dass Lisdexamfetamin bei Erwachsenen mit mittelschwerer bis schwerer Binge-Eating-Störung (BES) hilft, die Häufigkeit von Essanfällen zu reduzieren (JAMA Psychiatry (2015; doi: 10.1001/jamapsychiatry.2014.2162). In den USA ist es seit 2015 in dieser Indikation auch zugelassen, in Deutschland nicht.

8.2.3 Dosierung

Die empfohlene Anfangsdosis beträgt 30 mg pro Tag. Je nach klinischem Bild kann die Dosis wöchentlich um 10 mg gesteigert werden. Die Zieldosierungen für Erwachsene liegen bei 20 mg pro Tag bis maximal 70 mg pro Tag.

8.2.4 Unerwünschte Wirkungen

Stimulanzien rufen einen geringfügigen Anstieg des durchschnittlichen Blutdrucks (um etwa 2 – 4 mmHg) und der durchschnittlichen Herzfrequenz (um etwa 3 – 6 Schläge/min) hervor, und im Einzelfall kann es auch zu stärkeren Anstiegen kommen (Quelle Fachinformation Elvanse®). Bei Erkrankungen des Herz-Kreislaufsystems, insbesondere bei angeborene Herzfehler, Herzrhythmusstörungen und Hypertonie ist eine individuelle Nutzen-Risiko-Einschätzung erforderlich.

Die Appetitminderung ist unter Lisdexamfetamin oft ausgeprägter als unter Methylphenidat.

8.3 Atomoxetin

  • ist ein Antidepressivum, genauer gesagt ein selektiver Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer.
  • hat keine Ähnlichkeit mit Amphetaminen, unterliegt nicht dem Betäubungsmittelgesetz und kann wie jedes Antidepressivum auf einem ganz normalen Rezept verordnet werden.
  • ist zugelassen als ADHS-Therapeutikum der ersten Wahl.
  • ist im Erwachsenenalter bei begleitenden Abhängigkeitserkrankungen, Angst- oder Tic-Störungen Mittel der ersten Wahl.

Atomoxetin ähnelt chemisch dem Fluoxetin, ist aber anders als dieses kein Serotonin-Wiederaufnahmehemmer, sondern ein selektiver Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer. Dieses Therapieprinzip hat sich in der Behandlung von Depressionen als nicht wirksam erwiesen. Es ist aber seit 2005 in Deutschland zugelassen zur Behandlung der Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS).

8.3.1 Pharmakologie

Atomoxetin ist ein Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer ohne wesentliche Wirkung auf die Serotonin-Wiederaufnahmehemmung. Durch die Hemmung des Noradrenalintransporters, der nicht ganz so selektiv arbeitet, kommt es auch zu einem Anstieg von Dopamin im präfrontalen Kortex.

Atomoxetin ist kein Psychostimulans. Die Wirkung tritt im Gegensatz zu den Stimulanzien erst nach mehreren Wochen auf.

8.3.2 Klinischer Einsatz

Atomoxetin ist in Deutschland zur Behandlung der ADHS bei Kindern ab dem sechsten Lebensjahr, bei Jugendlichen und bei Erwachsenen zugelassen. Erwachsene dürfen nur dann mit Atomoxetin behandelt werden, wenn die ADHS-Symptome schon in der Kindheit vorhanden waren. Da Atomoxetin kein Psychostimulans ist, kann es auch Patienten mit einer vorbestehenden oder komorbiden Suchterkrankung verordnet werden und ist für diese Patientengruppe die Therapie der ersten Wahl. Auch bei komorbiden Angst- oder Tic-Störungen ist es gegenüber dem Methylphenidat zu bevorzugen.

8.3.3 Dosierung

  • Kinder und Jugendliche bis 70 kg Körpergewicht:
    • Anfangsdosis während der 1. Woche: 0,5 mg/kg Körpergewicht
    • Dauerbehandlung ab der 2. Woche: Bis zu 1,2 mg/kg Körpergewicht
  • Erwachsene und Jugendliche ab 70 kg Körpergewicht:
    • Anfangsdosis während der 1. Woche: 40 mg/Tag
    • Dauerbehandlung ab der 2. Woche: je nach Wirksamkeit und Verträglichkeit bis zu 80-100 mg/Tag

8.3.4 Nebenwirkungen

Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer können sowohl den Puls als auch den Blutdruck ansteigen lassen. Dies gilt auch für Atomoxetin. Es kann auch eine gewisse Unruhe verursachen. Ansonsten gilt es als relativ gut verträglich.

8.4 Guanfacin

Guanfacin ist kein Stimulans. Es ist ein alpha2A-adrenerger Rezeptor-Agonist, der die postsynaptische noradrenalin-Übertragung modifiziert. Guanfacin ist in Deutschland für Kinder ab sechs Jahren und Jugendliche zugelassen; für Erwachsene ist es anders als in den USA in Deutschland nicht zugelassen.

Guanfacin kann eingesetzt werden, wenn Stimulanzien nicht in Betracht kommen oder nicht wirksam waren. Die Wirkung tritt üblicherweise innerhalb von 3 Wochen ein.

Guanfacin wirkt in vielen Fällen schwächer als Stimulanzien, auch kann es Nebenwirkungen wie Gewichtszunahme machen. Wenn Stimulanzien aber nicht erfolgreich waren oder sich aus anderen Gründen nicht anbieten, ist es im Bereich der Kinder- und Jugendlichen Psychiatrie eine weitere Behandlungsoption.

8.5 Mein persönliches Fazit zu ADHS Therapeutika

„Vor die Therapie haben die Götter die Diagnose gestellt“. Dies gilt insbesondere für Methylphenidat. Es wirkt bei Kindern mit ADHS sehr effektiv, auch noch im Erwachsenenalter, wenn die Symptomatik unbehandelt fortbestehen würde. Allerdings gibt es auch Fehldiagnosen; nicht jeder unkonzentrierte Erwachsene hat ADHS.

Methylphenidat ist das Mittel der ersten Wahl bei ADHS, seine Wirksamkeit ist unbestritten. Die Frage nach dem Abhängigkeitspotential ist zwar nicht einfach zu beantworten, aber bislang gibt es keine Studien, die ein erhöhtes Risiko für die Entwicklung einer Suchtkrankheit nach Behandlung mit Methylphenidat zeigen. Anders ist es, wenn die Suchtkrankheit vor einem Behandlungsversuch mit Methylphenidat besteht, dann ist besondere Vorsicht geboten.

Lisdexamfetamin gilt als Mittel der zweiten Wahl. Bei Kindern und Jugendlichen ist bei der Indikation sogar explizit gefordert, dass ein Versuch mit Methylphenidat zuvor erfolglos gewesen sein muss. Es kann mehr Nebenwirkungen haben als Methylphenidat, insbesondere die Appetitminderung kann ausgeprägter sein. Allerdings hilft Lisdexamfetamin manchen Patienten, die unter Methylphenidat keine ausreichende Wirkung haben, besser.

Atomoxetin ist zwar weniger bedenklich als Methylphenidat, aber für manche Patienten auch weniger wirksam. Es ist vor allem dann eine Option, wenn es gute Gründe gibt, kein Methylphenidat einzusetzen. Man muss aber wissen, dass die Wirkung von Atomoxetin im Gegensatz zu den Stimulanzien erst nach einigen Wochen eintritt.

Guanfacin ist nur für Kinder und Jugendliche zugelassen und hat hier eine besondere Bedeutung bei Unverträglichkeit gegen Stimulanzien.

Literatur

70 Lilly Deutschland GmbH. Rote-Hand-Brief. Wichtige sicherheitsrelevante Information zu Strattera (Atomoxetin) und des Risikos eines Blutdruck- und Herzfrequenzanstiegs (07.12.2011). Im Internet: http://www.akdae.de/Arzneimittelsicherheit/RHB/Archiv/2011/20111207.pdf; Stand: 09.02.2020

Weiterführende Literatur

71 dgkjp e. V., DGPPN e. V., DGSPJ e. V. et al. Kurzfassung der interdisziplinären evidenz- und konsensbasierten (S3) Leitlinie „Aufmerksamkeitsdefizit- / Hyperaktivitätsstörung (ADHS) im Kindes-, Jugend- und Erwachsenenalter“ (05/2017). Im Internet: https://www.awmf.org/uploads/tx_szleitlinien/028-045k_S3_ADHS_2018-06.pdf; Stand: 11.03.2020

Copyright

Dieser Beitrag ist ein Auszug beziehungsweise eine auszugsweise Vorabveröffentlichung des Werks „Psychopharmakotherapie griffbereit“ von Dr. Jan Dreher, © Georg Thieme Verlag KG. Die ausschließlichen Nutzungsrechte liegen beim Verlag. Bitte wenden Sie sich an permissions@thieme.de, sofern Sie den Beitrag weiterverwenden möchten.

Daridorexant

Ich habe ein ausführliches Video über Daridorexant erstellt, das Du hier finden kannst:

Darüber hinaus habe ich hier einen Text verfasst, der in einigen Jahren einmal in der nächsten Auflage meines Buches Psychopharmakotherapie griffbereit erscheinen soll. Daher ist dieser Text – anders als die meisten anderen Texte auf diesem Blog – mit einem Copyright geschützt, Du darfst ihn also nicht ohne Zustimmung weiterverwenden, weiter veröffentlichen oder verändert veröffentlichen.

Ich bitte Dich aber sehr wohl, ihn kritisch zu lesen, mich auf mögliche Fehler oder Unvollständigkeiten hinzuweisen und Anregungen zur Verbesserung zu machen. Gerade durch diesen Austausch hat das Buch seine besondere Qualität erreicht, und ich werde diese gute Tradition fortsetzen. Hier also mein aktueller Entwurf zum Text:

Daridorexant

  • ist ohne zeitliche Begrenzung zugelassen zur Behandlung der chronischen Insomnie
  • wirkt pharmakologisch anders als alle anderen Schlafmittel: Es reduziert die Wachheit, statt müde zu machen
  • macht nicht abhängig

Daridorexant ist ein 2022 zugelassener dualer Orexin-Rezeptor-Antagonist, der zur Behandlung der chronischen Insomnie zugelassen ist und der in dieser Indikation dauerhaft eingesetzt werden darf. Der Wirkstoff reduziert die Wachheit und macht nicht abhängig.

Pharmakologie

Daridorexant ist ein dualer Antagonist an den Orexin A und Orexin B Rezeptoren. Orexine halten die Wachheit aufrecht. Im Normalfall steigt der Orexinspiegel am Tag an und fällt zum Abend hin wieder ab. Orexine begünstigen die Freisetzung von wachheitsassoziierten Neurotransmittern wie Serotonin, Histamin, Acetylcholin und Norepinephrin. Daridorexant wird rasch absorbiert und hat eine Halbwertszeit von etwa 8 Stunden.
Tierexperimentelle Studien zeigten, dass Daridorexant die normale Schlafstruktur nicht verändert (Boss et al. 20201, Roch et al. 20212)

Klinischer Einsatz

Daridorexant wird angewendet bei chronischer Insomnie, wenn keine ursächliche Behandlung zur Verfügung steht.
In den Zulassungsstudien mit 1854 Studienteilnehmern verkürzte es die Einschlafzeit, verbesserte das Durchschlafen und verminderte die Tagesschläfrigkeit3.

Dosierung

  • Standarddosis: 50 mg zur Nacht
  • Bei Leberfunktionsstörung oder nach klinischer Einschätzung 25 mg zur Nacht

Nebenwirkungen

Insgesamt hat Daridorexant ein niedriges Niveau an unerwünschten Wirkungen. Insbesondere verursacht es keine Toleranzentwicklung, keine Abhängigkeit und nur selten Tagesmüdigkeit.
Es kann aber im Einzelfall vor allem zu Beginn der Behandlung die Wachheit auch tagsüber reduzieren, so dass im Straßenverkehr und bei der Benutzung von Maschinen Vorsicht geboten sein kann. Selten verursacht es Schlafparalyse, hypnagoge/hypnopome Halluzinationen und leichte kataplexie-ähnliche Symptome. Bei Patienten mit primärer Depression, die mit Hypnotika behandelt werden, wurde eine Verschlechterung der Depression und Suizidgedanken und Suizidversuche berichtet. Wie andere Hypnotika auch, sollte Daridorexant bei solchen Patienten mit Vorsicht angewendet werden.

Mein persönliches Fazit

  • Viele Patienten berichten, dass Daridorexant zu einem schnelleren Einschlafen führt.
  • Die ersten 4-6 Stunden schliefen viele gut durch.
  • Die Tagesmüdigkeit nehme ab.
  • Die Wirkung trete meist innerhalb der ersten drei Tage ein.
  • Das Absetzen macht keine Probleme.
  • Ich setze es bei chronischer Insomnie zunehmend häufig ein, auch bei begleitenden psychiatrischen Erkrankungen, mit bislang gutem Erfolg.

Copyright

Dieser Beitrag ist ein Auszug beziehungsweise eine auszugsweise Vorabveröffentlichung des Werks „Psychopharmakotherapie griffbereit“ von Dr. Jan Dreher, © Georg Thieme Verlag KG. Die ausschließlichen Nutzungsrechte liegen beim Verlag. Bitte wenden Sie sich an permissions@thieme.de, sofern Sie den Beitrag weiterverwenden möchten.

  1. Boss C, Gatfield J, Brotschi C, Heidmann B, et al (2020) The quest for the best dual orexin receptor antagonist (daridorexant) for the treatment of insomnia disorders. ChemMedChem; 15:2286–305. ↩︎
  2. Roch C, Bergamini G, Steiner MA, Clozel M (2021) Nonclinical pharmacology of daridorexant: a new dual orexin receptor antagonist for the treatment of insomnia. Psychopharmacology (Berl); 238:2693-2708 ↩︎
  3. Mignot E et al. Lancet Neurol. 2022;21:125–39 ↩︎

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Buchrezension Berger & Benkert Hippius

Ich habe zwei meiner Lieblingsbücher rezensiert: Den Berger und den Benkert Hippius, jeweils in ihrer neunen Auflage.

Hier sind die Affiliate-Links zu den Büchern: 

Crowdpower: Psychiatrische Notfälle im Notfallguru

Kennst Du den Notfallguru? Zur Geschichte: Am Anfang war das Projekt Nerdfallmedizin. Philipp Gotthardt und Martin Fandler veröffentlichen auf YouTube Videos, in denen der aktuelle Stand des Wissens in der Notfall- und Intensivmedizin durch Erklärungen, Interviews und Gespräche auf die konkrete Situation im Notfall, im Rettungsdienst oder in der Notaufnahme heruntergebrachten wird. Und zwar so nachvollziehbar erklärt, dass selbst ich als Psychiater den meisten Dingen ein weites Stück weit folgen kann. Und sympathisch und didaktisch gut aufbereitet und wissenschaftlich fundiert. Der Kanal ging entsprechend durch die Decke, besonders bei Leuten aus dem Blaulichtmilieu, und zwar bei allen Berufsgruppen und auch bei verwandten Fachgebieten. Wir in der Psychiatrie haben ja auch regelmäßig mit Notfällen zu tun …

Und dann gab es die Idee, das Wissen in einer Art Taschenbuch zu sammeln, so dass man im Einsatz immer schnell nachschlagen kann, was wirklich wichtig ist und wie man es nun wirklich tut. Und so entstand das Projekt Notfallguru. Von einer Stiftung gefördert und weiterhin Teil der deutschen FOAMed Bewegung.

Das Kapitel zu psychiatrischen Notfällen ist hier zu finden. Und nun hat Martin Fandler mich gebeten, das doch mal etwas zu überarbeiten. Das habe ich gerne getan und die hier folgende Überarbeitung erstellt. Aber damit hört es nicht die auf. Nun bitte ich euch um euer Feedback! Was könnte besser beschrieben werden? Was fehlt vielleicht? Welche Verbesserungsvorschläge hast DU? Lies am besten mal ein zwei andere Kapitel im Notfallguru, um einen Eindruck vom Stil dort zu bekommen und schreib ausformulierte Vorschläge hier in die Kommentare. Ich werde das dann sichten, ggf. einarbeiten und dann einen weiter entwickelten Vorschlag bei der Redaktion des Notfallgurus einreichen.

Vielen Dank für Deine Mitarbeit!

Killer

Red Flags

  • Offensichtliche Eigen- / Fremdgefährdung
  • Wechselnder Bewusstseinszustand
  • Unerklärte Auffälligkeiten der Vitalwerte (insb. Tachypnoe)

Erste Schritte

  • Ist der Patient gegenwärtig gefährlich für andere?
    • Akute Agitation: Ursache evaluieren – siehe „FIND ME“ unten.
    • Weitere Hilfe bzw. Polizei notwendig?
    • Fixierung notwendig?
    • Fluchtgefahr?
    • PsychKG prüfen
  • Ist der Patient gegenwärtig selbstgefährdet?
    • Offen nach Suizidalität fragen!
    • PsychKG prüfen
  • Ist der Patient akut somatisch krank?
    • Differenzierung organische oder nicht organische Ursache
    • Bei V.a. Delir/qualitative Bewusstseinsstörung, s. Verwirrung
    • v.a. mit zunehmendem Alter / bei Erstdiagnose erwägen! s. Schwäche/Reduzierter AZ
    • Psychisch Erkrankte haben häufig mangelhafte medizinische Anbindung, daher auch nach nicht offensichtlichen, behandlungspflichtigen Verletzungen/ Erkrankungen fragen/suchen

Fokus Präklinik

Agitation / akute Eigen- oder Fremdgefährdung

Vorgehen bei akuter Gefahr:

  • Selbstschutz!
  • Talk down: Abstand halten, ruhig bleiben, Kontakt aufbauen, Regeln und Grenzen setzen, aber (einfache) Entscheidungsmöglichkeiten anbieten
  • Wenn erforderlich: Frühzeitig Polizei hinzuziehen, zahlenmäßige Überlegenheit herstellen, nicht zu nahe kommen, Fluchtweg freihalten
  • Pat. von gefährlichen Gegenständen (Messer, Spritze, etc.) fernhalten
  • Rechtlicher Hintergrund / Unterbringung siehe Unterbringung / PsychKG unten
  • Möglichst auf das Erleben der Patient:innen eingehen. Zunächst kein Widerspruch!
  • Falls medikamentöse Notfallsedierung nötig, s. „Fixierung / Notfallsedierung“ unten
  • Anamnese (soweit möglich, ggf. Fremdanamnese) + Untersuchung Akut-Diagnostik

Weiteres Management

  • Bei Vorliegen einer organischen Ursache muss diese entsprechend weiterbehandelt werden.
  • Bei nicht-organischer Psychose muss ein Risiko-Assessment erfolgen, ob eine ambulante Versorgung möglich sein kann:
    • CAVE: Keine ambulante Versorgung bei V.a. postpartale Psychose ohne psychiatrische Evaluation

Ursachen für akute Agitation

FIND ME: Ursachensuche bei Agitation

F: Funktional (psychiatrische Erkrankungen z. B. Demenz, Schizophrenie)

I: Intoxikation (+ Medikamentennebenwirkungen)

N. Neurologisch (postiktal, intrakranielles Geschehen)

D: Drogen (z.B. Alkohol, Cannabinoide, Amphetamine)

M: Metabolisch (z. B. Elektrolytentgleisung, Hypo-/Hyperglykämie)

E: Endokrinologisch (z. B. Hyperthyreose)

Fixierung: Praktisches Vorgehen

  • Fixierung ist Teamaufgabe!
  • Vor der Fixierung im Team (auch mit beteiligter Polizei) die jeweiligen Aufgaben zuweisen.
  • Jede Person nimmt die ihr zugewiesene Extremität und hält diese fest: Vier Extremitäten – 4 Personen.
  • Die fünfte Person ist für die Fixiergurte zuständig und führt die Fixierung durch.
  • Wenn eine sechste Person verfügbar ist, kann diese den Kopf festhalten.
  • Erst wenn der Patient fixiert ist, sollte bei Bedarf die Notfallsedierung folgen. Diese kann beim fixierten Patienten sicher mit Midazolam nasal erfolgen. Das macht dann der für den Kopf zuständige Helfer.
  • Danach können alle Helfer den Patienten loslassen und zurücktreten.
  • Der fixierte Patient muss engmaschig überwacht werden (Monitoring).
  • Nach Fixierung umgehend und je nach Landesgesetzen richterliche Zustimmung einholen.

Sedierung im Notfall: Praktisches Vorgehen

  • Voraussetzungen
    • Freiwillige Einnahme ist immer vorzuziehen.
    • Vor Notfallsedierung muss physische Fixierung sichergestellt werden.
    • Vor Einsatz von Sedativa immer auf potenzielle Atem- und Kreislaufinsuffizienz vorbereitet sein.
    • Ggf. Sauerstoffgabe via Maske (= improvisierter Spuckschutz, Therapie etwaiger Hypoxie, prophylaktische Präoxygenierung)
    • Auch die zwangsweise Sedierung ist eine Zwangsmedikation, gute Dokumentation ist wichtig!
  • Medikamente („Kochrezepte“ – immer individuell anpassen!)
    • Leichte bis moderate Agitation, erhaltene Kooperation
      • Lorazepam expedit 1–2,5 mg po. Wirkeintritt auch der Expedit-Form erst nach 30–45 Minuten.
      • Lorazepam i.v.. Wirkeintritt nach 2–5 Minuten
    • Schwere Agitation, keine Kooperation
      • Midazolam 5–10 mg intranasal. Übliches Vorgehen bei Erwachsenen: 5 ml pro Nasenloch, bei der Gabe das jeweils andere Nasenloch zuhalten. Wirkeintritt nach 1–2 Minuten. Bei fortbestehender Agitation nach 5 Minuten weitere 5–10 mg Midazolam nasal nachgeben.
      • Alternativ, wenn iv.-Zugang verfügbar: Midazolam 3-5 mg Boli iv. oder Propofol 20-30 mg Boli iv.
        Dosis nach Vigilanz anpassen, vollständiges Monitoring, im Verlauf ggf. Perfusor
      • Alternative: Haloperidol 5–10 mg i.v. oder i.m.
    • Kritische Notfallsituation, kein iv. Zugang verfügbar, sofortige Sedierung notwendig:
      • Esketamin mind. 1–2 mg/kg i.m. (Ketamin 3-5 mg/kg i.m.)
      • Auf Atemwegssicherung vorbereiten, engmaschige Überwachung

Suizidalität

Prüfung der Suizidalität:

  • Verdacht sollte bei Vorliegen offen und wertungsfrei angesprochen werden.
  • Jede Suizidäußerung und jeder Suizidversuch muss ernst genommen werden!
  • Suizidalität kann anhand von Risikofaktoren und protektiven Faktoren abgeschätzt werden. Für eine abschließende und rechtssichere Einschätzung ist jedoch eine psychiatrische Vorstellung notwendig.

Phasenmodell der Suizidalität:

  • Phase 1: „Lebensüberdrussgedanken“ bzw. passive Todeswünsche
  • Phase 2: Konkrete, aktive Suizidgedanken ohne bisherige Planungen
  • Phase 3: Aufdrängende Suizidgedanken, konkrete Planungen, Vorbereitungen

Vorgehen:

  • Wichtig ist das Erkennen einer Suizidalität und das offene Ansprechen!
  • Bei Hinweisen auf eine akute Suizidalität (stattgehabter Suizidversuch / ernsthafte Äußerung) muss von einer Eigengefährdung ausgegangen werden und eine psychiatrische Vorstellung erfolgen.
  • Beim Ablehnen einer psychiatrischen Vorstellung muss diese nach Rücksprache mit dem/der diensthabenden Psychiater:in ggf. auch unter Zwang entsprechend der jeweiligen Landesgesetze erfolgen (siehe Unterbringung / PsychKG unten).

Akute Psychose

Akute Psychose = Es liegen psychotische Symptome wie Halluzinationen, Wahn oder wahnhaft getriebenes bizarres Verhalten vor.

Die Unterscheidung zwischen „organischer“ und „nicht-organischer“ Psychose ist wichtig für die weitere Behandlung. Bei organisch bedingten Psychosen muss auch und zuerst die Ursache kausal therapiert werden; zusätzlich wird ein Antipsychotikum gegeben. Bei eigenständigen psychiatrisch bedingten Psychosen wird direkt psychiatrisch weiterbehandelt.

Checkliste Psychose

  • Agitation/akute Eigen- oder Fremdgefährdung: Selbstschutz!
  • Anamnese
    • Überblick über die Situation und das Erleben des Patienten bekommen („Was geht denn hier gerade vor?“)
    • Konkretes Erfragen von Halluzinationen („Hören Sie Stimmen, die zu Ihnen sprechen?“ „Sehen Sie ungewöhnliche Dinge?“
    • Erfragen von Wahn („Geht etwas gegen sie vor? Ist da etwas gefährliches im Gange gegen Sie?“
    • Erfragen von Suizidalität („Haben Sie Gedanken, sich etwas anzutun?“)
  • Untersuchung
    • Suche nach Hinweisen auf körperliche Erkrankung, die das psychotische Krankheitsbild erklären könnte
    • Körperliche Untersuchung
    • Labor inkl. BGA, Entzündung, Schilddrüse, Leber, Alkohol
    • EKG (QTc-Zeit?)
    • cCT/-MRT: Bei jeder unklaren, erstmalig aufgetretenen Psychose
  • Benzodiazepine initial bei ausgeprägter Agitation
    • Lorazepam 1-2,5mg po.
  • Antipsychotika:
    • Risperidon 1-2mg po.
    • Quetiapin 25mg po. (möglich bei M. Parkinson)

Hinweise für eine organische Ursache der Psychose:

  • Erstmaliges Auftreten im späten Erwachsenenalter (Alter >40 Jahre)
  • Abwesenheit einer psychiatrischen Grunderkrankung
  • Drogen-/Alkoholabhängigkeit
  • (Neue) Einnahme von Medikamenten mit psychoaktiven Nebenwirkungen
  • Bekannte strukturelle Hirnläsion (z.B. Tumor / Z.n. SHT)
  • Vorerkrankungen (insb. Stoffwechselerkrankungen)
  • Plötzliche Symptommanifestation mit fluktuierendem Charakter (s. Delir)
  • Fieber/Infektion (insb. bei alten Menschen)
  • Malnutrition (Vitaminmangelzustände)

Stupor / Katatonie / Malignes neuroleptisches Syndrom

  • Katatonie: „Massive „Verkrampfung des Körpers“, Gefahr des plötzlichen (fremdaggressiven) Raptus. Ist eine Unterform der Schizophrenie.
  • Stupor: „Hören & sehen alles, können nichts machen“, (oft angespannt = erhöhte Herzfrequenz/Blutdruck). Ist ein Zustand, der bei schizophrenen Patienten auftreten kann.
  • Malignes neuroleptisches Syndrom: Bewusstseinstrübung, Muskelstarre, Hyperthermie und vegetative Entgleisung

Diagnostik:

  • Anamnese: (Psychosekrank? Antipsychotische Medikation? Welche? Wie lange schon? Psychischer Befund?)
  • Temperaturmessung
  • Labordiagnostik (Blutbild, Niere, Leber, Entzündung, Laktat)
  • Verletzungen, Hinweis auf Trauma?

Therapie:

  • Stupor: Benzodiazepin hochdosiert (z.B. Lorazepam 2,5mg p.o.)
  • Katatonie: Antipsychotikum + evtl. Benzodiazepin hochdosiert
  • Malignes Neuroleptisches Syndrom: Intensivstation, Dantrolen, Symptomatische Therapie

Akute Manische Episode

  • Affekt: Reizbarkeit, gehobene Stimmung, Distanzlosigkeit, Affektlabilität
  • Antrieb: Unruhig, Hyperaktiv
  • Teils kreisende Gedanken mit Ideenflucht und Rededrang

Therapie:

  • Sedierung mit einem Benzodiazepin (z.B. Lorazepam 2,5mg p.o. oder Midazolam 1-3mg in./iv.)
  • Antimanische Medikation mit Lithium, bei Männern Valproat oder Carbamazepin
  • Ggf. Antipsychotikum (z.B. Risperidon 1-3 mg p.o.)

Depression

Anamnese + Fremdanamnese:

  • Aktuelle Symptomatik? (Depressive Stimmung, Interessenverlust, Antriebsmangel)
  • Suizidalität?
  • Aktuelle Medikation?

Therapie:

  • Verbale Krisenintervention
  • Wenn möglich ambulante Behandlung vermitteln
  • Ggf. stationäre Aufnahme in zuständiger psychiatrischer Klinik
  • Ggf. Anbindung über psychosozialen Krisendienst (s. Notfallnummern)

Hyperventilation

Wichtig: Unterscheidung von Tachypnoe als Begleitsymptom einer potentiell kritischen Erkrankung (z.B. Schock, Sepsis, Lungenembolie) von Hyperventilation / Hyperventilationssyndrom als primäre Problematik. Leitsymptom meist Dyspnoe – mehr Details siehe Dyspnoe – Hyperventilation

Akute Belastungsreaktion

Eine vorübergehende psychische Reaktion auf schwere körperliche oder emotionale Belastungen kann zu einer akuten Belastungsreaktion führen.

Da in der Notaufnahme Patient:innen und Angehörige häufiger mit schwerwiegenden Ereignissen konfrontiert werden, sollte ein grundsätzliches Verständnis und Konzept für Behandlungsmöglichkeiten und -angebote bestehen.

Symptome:

  • Akut
    • Dissoziative Symptome:
      • Gefühl der „Betäubung“, Amnesie bzgl. des traumatischen Ereignisses, dissoziativer Stupor
    • Vegetative Symptome (z.B. Tachykardie, Schwitzen, Übelkeit)
    • Schwankende Affekte (Trauer, Wut, Reizbarkeit, Aggression, Verzweiflung, Angst)
  • Im Verlauf
    • Flashbacks und Albträume
    • Übererregbarkeit (Anspannung, Schreckhaftigkeit, Schlafstörungen, Reizbarkeit)
    • Sozialer Rückzug, Suizidalität, psychotische Symptome

Vorgehen/Betreuung:

Ziel in der Notaufnahme sollte die Identifikation von gefährdeten Personen sowie das Angebot  und die Organisation weiterer Hilfen sein.

Generell:

  • Vermittlung von Sicherheit
    • für sichere und ruhige Umgebung sorgen = Schutz vor Außenreizen, Presse und ggf. auch Polizei
  • Gesprächs-/Betreuungsangebot
    • Beruhigen und entlasten
    • Trost spenden, Zulassen von Emotionen, Mut machen, auf Grundbedürfnisse eingehen
    • auf Wunsch Angehörige informieren/holen
  • Fördern von Selbstwirksamkeit (z.B. kleine Aufgaben geben) und Kontrolle

Bei Bedarf:

  • Hinzuziehen psychosozialer Notfallhilfe/Fachkräfte
    • z.B. Psychosomatik, Psychiatrie, Kriseninterventionsteam
  • Betroffene auf Informationsmaterial/-möglichkeiten bzgl. traumatypischer Symptome, Verläufe und Therapien hinweisen

Medikation:

  • Medikation zur Beruhigung möglichst vermeiden!
  • Nur in Ausnahmefällen Benzodiazepine verabreichen (vermindern Traumaverarbeitung und begünstigen eher posttraumatische Belastungsstörung)

Alkoholintoxikation

Wann muss ich einen alkoholintoxizierten Patienten aufnehmen? Wann muss ich ihn auch gegen seinen Willen aufnehmen? Muss ich ihn auf eine Intensivstation aufnehmen oder in eine psychiatrische Klinik einweisen? Alle drei Fragen lassen sich nicht nach einem festen Schema beantworten, es kommt jeweils auf die Situation an. Folgende Gedanken sollten aber in die Überlegung einfließen:

  • Besteht eine wirkliche Gefährdung, nicht nur eine theoretisch mögliche? „Dieser Patient ist zu betrunken, um die kalte Nacht draußen zu überleben, und er schafft es auch nicht in eine Notunterkunft“ ist eine konkrete Gefahr. „Er könnte ja auf die Straße wanken und überfahren werden“ ist hingegen eine ziemlich theoretische Gefahr. Mache ich mir wirklich Sorgen um ihn? Oder will ich nur „auf Nummer sicher gehen?“
  • Wenn der Patient keine Entgiftung im Krankenhaus wünscht, dann gibt es keinen Grund, diese zu erzwingen, auch wenn sie natürlich grundsätzlich wünschenswert wäre. Eine Zwangseinweisung mit dem einzigen Ziel, die Alkoholabhängigkeit durch eine Entgiftung zu beenden, ist keine durchführbare Option. Der Patient würde wahrscheinlich am nächsten Morgen im nüchternen Zustand doch seine Entlassung erwirken.
  • Auf eine Intensivstation muss nur derjenige aufgenommen werden, der auch wirklich vital gefährdet ist. Dafür reicht eine unkomplizierte Alkoholintoxikation nicht. Gründe für eine Intensivstation können aber sein:
    • Unklare Mischintoxikation
    • Schwere körperliche Begleiterkrankung, die Komplikationen des Entzuges sehr wahrscheinlich machen
    • Extrem hohe Promillezahlen, etwa ab 5 Promille
    • Reduzierte Schutzreflexe (das ist aber bei reinen Alkoholintoxikationen erst sehr spät und selten der Fall)

Delir

Das Delir ist gekennzeichnet durch eine fluktuierende Orientierungsstörung, Verlangsamung, in einigen Fällen optische Halluzinationen sowie vegetative Dysregulationen. Unbehandelt kann es tödlich sein. Delirien können in folgende Untergruppen unterteilt werden:

Alkoholentzugsdelir

Das Alkoholentzugsdelir entsteht oft 4-5 Tage nach dem letzten Konsum und ist meistens ein hypoaktives Delir mit Halluzinationen. Manchmal aber auch ein hyperaktives Delir mit oder ohne Halluzinationen…

Checkliste Alkohol-Entzugsdelir

  • Beim Hyperaktiven Delir: Gabe von Benzodiazepin zur Sedierung
    • z.B. Lorazepam 2,5mg /8h po. + 1mg po. bei Bedarf
    • falls po. anfangs nicht möglich, initial iv.-Gabe z.B. Lorazepam 1-2mg iv. oder Midazolam 2-4mg iv.
    • Anpassung Dosis nach Bedarf
  • Bei Delirien mit Halluzinationen: Gabe von Antipsychotika
    • z.B. Risperidon 1-0-1 mg oral
    • oder Haloperidol 2-0-2 mg oral
  • Vitamin B1 (Thiamin) 100mg iv./24h oder 100mg po./8h
  • Ausgleich von Elektrolyten (z.B. Magnesium 100mg po./8h)
  • Schwere Symptomatik (ausgeprägtes Delir):

Sonderfall „Agitiertes Delir“

  • Unterschiedliche Bezeichnungen / unscharfe Abgrenzung zu anderen Delirformen (u.a. hyperaktives Delir, agitiertes Delir).
  • Vital bedrohliche Kombination aus Agitation, massiv gesteigertem Stoffwechselumsatz und körperlicher Anstrengung bei einer physischen Fixierung (häufig in Zusammenhang mit Drogenkonsum).

Hypothese: Eine bestehende metabolische Azidose mit initial (teilkompensierter) Hyperventilation kann z.B. durch Sedierung mit atemdepressiven Medikamenten / Fixierung (insb. Bauchlage) rasch dekompensieren mit Gefahr eines Kreislaufstillstands, dieser wird in der Situation zudem potenziell spät erkannt.

Risikozeichen (Trias):

(v.a. in Kombination mit mögl. Drogenabusus)

Checkliste V.a. „Agitiertes Delir“

  • Sedierung mit Esketamin im. (siehe Notfallsedierung), meist Unterstützung durch Polizei, etc. notwendig – Prozedere vorab absprechen
  • Langdauernde Fixierung insb. in Bauchlage vermeiden
  • Frühzeitig BGA (im Verlauf dann Labor, inkl. CK)
  • Falls invasive Beatmung nötig, initiale Hyperventilation
  • Frühzeitig hochdosiert Sauerstoff (Maske mit Reservoir, ggf. auch als Spuckschutz)

Akute Belastung im eigenen (Notaufnahme-)Team

  • Pause anbieten!
  • Probleme/Gefühle offen ansprechen
  • Ansprechpartner für weitere Hilfe z.B. klinikinterne Strukturen (Peer Support Systeme) oder nationale Projekte wie →EMPTY Projekt der YoungDGINA oder →PSU Akut Helpline
  • Hilfreich kann ev. nach belastenden Situationen / Einsätzen auch ein „Hot Debrief“ (direkt nach der Situation) sein; auch zur Identifikation von strukturellen Problemen / Verbesserungsmöglichkeiten

STOP Hot Debrief nach belastenden Situationen

S: Summarize the case (Fall zusammenfassen)

T: Things that went well (Was lief gut)

O: Opportunities to improve (Möglichkeiten zur Verbesserung)

P: Point to action, key learnings (Wer kümmert sich um welche Verbesserung / Veränderung, was sind die zentralen Lernpunkte)

Unterbringung

Bei akuter Fremd- oder Eigengefährdung kann eine Unterbringung in eine psychiatrische Abteilung notwendig werden.

PsychKG (Deutschland)

Die Regelungen in Deutschland sind bundeslandspezifisch in den jeweiligen „PsychKG-Gesetzen“ (Psychisch-Kranken-Gesetze) und oft im Detail sehr unterschiedlich. Die DGPPN bietet auf ihrer Website eine →Übersicht zum PsychKG nach Bundesland.

UbG (Österreich)

In Österreich gilt das →Unterbringungsgesetzt (UbG) als Bundesgesetz.

FU (Schweiz)

In der Schweiz wird die sogenannte „Fürsorgerische Unterbringung“ (FU) im →Schweizerischen Zivilgesetzbuch ab Artikel 426 geregelt.

Weiterführende Literatur und Links

Interessante Links (frei zugänglich)

Literatur

  • Christ, M. & Nickel, C. H. „Medical Screening“ von Notfallpatienten mit psychiatrischen Symptomen. Notaufnahme up2date 05, 85–100 (2023).
  • Rentrop, M. & Zwanzger, P. Angst, Erregung, Suizidalität – Psychiatrische Notfälle im Allgemeinkrankenhaus. Notaufnahme up2date 04, 405–423 (2022).
  • Weber-Papen, S. & Schneider, F. Rechtliche Aspekte bei psychiatrischen Notfällen. Notaufnahme up2date 3, 171–184 (2021).
  • Brazil, V. & Williams, J. How to lead a hot debrief in the emergency department. Emerg. Med. Australas. 33, 925–927 (2021).
  • DGN. S1-Leitlinie Delir und Verwirrtheitszustände inklusive Alkoholentzugsdelir. AWMF (2020).
  • Klimovitskaya, E., Hentschel, V. & Müller, H. Suizidalität und Suizidprävention. Notaufnahme up2date 2, 403–420 (2020).
  • Gilmartin, S., Martin, L., Kenny, S., Callanan, I. & Salter, N. Promoting hot debriefing in an emergency department. BMJ Open Qual. 9, e000913 (2020).
  • DGPPN. S2k-Leitlinie Notfallpsychiatrie. AWMF (2019).

Das Psychiatrie ABC in 90 Sekunden

Ich versuche mich gerade darin, Videos TikTok first zu erstellen, was bislang Spaß macht. Begonnen habe ich mit einer Serie, die „Das Psychiatrie ABC in 90 Sekunden“ heißt, inzwischen aber auch schon kurz vor die drei Minuten geht, die Instagram noch als Reel akzeptiert. Du findest die Videos auf den jeweiligen PsychCast Accounts von TikTok, Instagram und YouTube.

Das aktuelle Video „F wie False Memories“ auf TikTok ist hier:

Die hierin erwähnte Studie findest Du hier.

Neues Video „Gewichtszunahme unter Psychopharmaka“ und Bilder online

Hi! Ich habe gerade das neue Video „Gewichtszunahme unter Psychopharmaka“ online gestellt; hier ist es:

Wenn Du die Bilder daraus verwenden möchtest, kannst Du das gerne tun, erwähne einfach als Quelle: „www.psychiatrietogo.de“. Hier sind die Bilder (wobei ich den lustigen Fehler mit den 300 mg Lorazepam dank eures Feedbacks schon korrigiert habe; vielen Dank!)

30.000 Abonnenten Live Special “Red Flags” und neue PsychCast Podcast-Folge

Wir feiern gemeinsam die 30.000 treuen PsychCast-Abonnenten mit einer YouTube Live Sendung am Mittwoch, den 15.05.24 um 20:00. Alex und Jan sprechen über Red Flags in der Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie! Sei live dabei und beteilige Dich mit Fragen, Anregungen und eigenen Beiträgen! Hier ist der Link zum Live-Stream!

Neue PsychCast Podcast-Folge: PC145 Streameskummer: Alex im Gespräch mit Hans-Christian Biller

Im neuen PsychCast Nr. 145 “Streameskummer”spricht Alex mit Christian über sein Buch „Kleine Gefühle“, das sich mit typischen Alltags-Situationen-Gefühls-Gemischen beschäftigt – und in dem sich die meisten bestimmt wiederfinden. Das Buch ist ein Plädoyer für ein wohlwollendes Hineinhorchen in die eigene Gefühlswelt: …Dingseligkeit, Meinsamkeit, Schleppression, Schmass, Philosofa, Urlaubssehnsucht und Streameskummer und viele andere Kleine Gefühle haben viele von Euch bestimmt schonmal erlebt. Das Buch findet ihr hier.

Psychopharmaka – Der PsychCast Videokurs

Es gibt einen neuen Videokurs: Der Psychopharmaka-Videokurs. In über 7,5 Stunden Videocontent erkläre ich Dir die Psychopharmakologie, vom Praktiker, für den Praktiker. Mehr als 3 der 7,5 Stunden sind exklusiver Content im Kurs, 4,5 Stunden des Contents gibt es in anderer, längerer oder anders zusammen gestellter Form schon hier auf YouTube. Aber zusammen geleitet Dich der Kurs durch das gesamte Gebiet der Psychopharmakologie. Schau doch mal rein:

https://elopage.com/s/psychcast/psychopharmaka

PsychCast News #16 ist online

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Meine Videokurse findest Du hier:

Vorbereitung auf die Facharztprüfung Psychiatrie & Psychotherapie

Rechtsgrundlagen der stationären psychiatrischen Behandlungen

Segen und Fluch der Antidepressiva

Psychiatrische Notfallsituationen Amboss (Amboss Videokurs)

Antidepressiva verschreiben (Amboss-Videokurs)

Neue PsychCast Episode „Suizidalität“ ist online

Mit Julius von der LVR-Klinik Köln spreche ich über Suizidalität: Diagnostik, Therapie und warum es so wichtig ist, darüber zu reden!

Du findest die Episode hier.  

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Du möchtest Die Ostertage nutzen, um Dich fortzubilden? Schau mal bei den PsychCast Videokursen vorbei:

Jetzt Organspende-Erklärung abgeben!

Ab heute kannst Du Deine Erklärung zur Organspende online abgeben. Du brauchst Deinen Personalausweis mit der Funktion der elektronischen Identifikation, die Personalausweis App und am besten noch Deine Krankenversicherten-Nummer.

Dann surfst Du mit dem Handy auf https://organspende-register.de vorbei, trägst ein, was Du für richtig hältst und fertig ist die Sache. Dauert 5 Minuten, für euch ausprobiert:

Neuer Videokurs online: Antidepressiva verschreiben

Du bist Ärztin oder Arzt? Du verschreibst Antidepressiva? In diesem neuen Videokurs erkläre ich Dir anhand von praktischen Beispielen, das Wann, Wem und Was der Antidepressiva-Therapie. Alles nachvollziehbar und eingängig erklärt, und mit passenden Kapiteln von Amboss ergänzt.

Für den Kurs kannst Du Dich hier einschreiben: http://go.amboss.com/psychcast-antidepressiva

Meine anderen Videokurse findest Du hier:

Die sechste Auflage meines Buches Psychopharmakotherapie griffbereit ist erschienen!

Es ist soweit! Nach gründlicher Aktualisierung, Überarbeitung und Erweiterung ist mein Buch Psychopharmakotherapie griffbereit in der sechsten Auflage erschienen! Frisch, aktuell und weiterhin im gut verständlichen PsychCast Stil geschrieben, gibt Dir das Buch eine gründliche Einführung in die Psychopharmakologie, erklärt genau, was im Umgang mit jedem beschriebenen Medikament wirklich wichtig ist. Das Buch richtet sich an Ärzte:innen aller Fachgebiete, an Betroffene, Angehörige und andere Interessierte. Von Grund auf überarbeitet habe ich die Kapitel zu:

  • Escitalopram
  • Risperidon
  • Depotneuroleptika
  • Akathisie
  • Lithium
  • Schlafmittel

Als ganz neue Kapitel habe ich aufgenommen: – Johanniskrautextrakt – Desvenlafaxin – Bupropion – Acamprosat Du kannst die neue Auflage unter diesen Links vorbestellen:

Fortbildung – Junge Suchtmedizin

Die Suchtmedizin hat so ein wenig das Image von Berlin: Arm, aber sexy. Arm sind Substitutionsmediziner eigentlich nicht, aber ihre Arbeit ist jedenfalls sinnvoll und nützlich.

Nun gibt es einen Zusammenschluss einiger junger Suchtmediziner, die mal wieder frischen Schwung in die Sache bringen wollen, und die haben sich zur Initiative „Junge Suchtmedizin“ zusammen geschlossen.

Und sie bieten auch ein sehr interessantes Fortbildungsprogramm an: Der nächste Termin ist am 18.01.2024 – 19:00 per Zoom: „Spotlight Sucht: Substitution für Anfänger:innen“.

Obwohl die Verschreibung von Buprenorphin und Co. einen der wichtigsten Bestandteile in der Behandlung von Opioidabhängigen darstellt, wissen die wenigsten nach dem Studium, wie genau die Behandlung abläuft.
Dr. Norbert Lyonn (Berlin) gibt uns einen Überblick und berichtet aus seiner jahrzehntelangen Erfahrung in der Substitutionstherapie.
Im Anschluss wird eine Betroffene aus ihrer Perspektive berichten: Was steht hinter ihrem Substanzgebrauch? Wie hat sie die Substitutionsbehandlung erlebt, was sind aus ihrer Sicht Vor- und Nachteile?
Die Veranstaltung findet online statt (Zoom) und ist kostenlos.

Hier geht’s zur Anmeldung! Veranstaltungen – junge Suchtmedizin